Ein Hörbeitrag vom 24. April 2024
Harry ist ein lieber Bekannter von mir. Ich lernte ihn kennen, als ich hier in den Ort und in die Wohnung seines kürzlich verstorbenen Bruders zog. Als ich einzog, stand er plötzlich einmal hinter mir, mit einem Gehstock und einem Körbchen voller Katzenfutter und fragte mich, ob es mir recht wäre, wenn er von Zeit zu Zeit vorbei käme, um die hinterbliebenen Katzen seines Bruders zu füttern. Es seien im Eigentlichen gar nicht die Katzen seines Bruders, sondern ausgesetzte und wilde Katzen, um die sich sein Bruder bis zu seinem Tode kümmerte.
Nun zog ich gemächlich ein und Harry kam täglich, um die Katzen zu füttern. So freundeten wir uns an, trinken nun zwei, dreimal die Woche zusammen Kaffee oder ich koche für uns. Manchmal spielen wir auch «Mensch ärgere dich nicht». Er besteht darauf mit den roten Hütchen zu spielen, denn – so Harry: «Das ist meine Rote Armee und die gewinnt immer.» Zu meinem Leidwesen und zuweilen mit Schnutte kann oder muss ich das leider bestätigen... Aber ich gewinne auch und zwar in dem ich Harrys Erzählungen aus einem langen und erlebnisreichen Leben lausche, denn er wird nächste Woche 90 Jahre alt. Mit seiner Kindheit im NationalSozialismus, den größten Teil seines Lebens im «sozialistischen» System der DDR und seit nunmehr 35 Jahren in der kapitalistischen Gesellschaft der BRD ist Harry wirklich ein wahrer Quell deutscher Geschichte.
Neulich fragte ich ihn: «Harry, was denkst du über die heutigen Zeiten, über das Deutschland der 2020er? Was hältst du vom «bösen» Russen und von einem kriegstüchtigen Deutschland?»
Er sagte: «Ich glaube, dass fängt alles wieder von vorne an. Die haben überhaupt nichts begriffen. Die wissen doch gar nicht was Krieg ist. Hoffentlich bleib ich bald tot.». Für mich eine sehr traurig-machende Antwort, von einem Mann, der sein Leben lang hart gearbeitet hat, ob nun beteiligt am Wiederaufbau Deuschlands oder als ehemaliger LPG (Landwirtschaftliche ProduktionsGenossenschaft) Vorarbeiter mit einer 1000 Euro Rente, der die «Früchte seiner Arbeit» eigentlich in einem gemütlichen und friedlichen Ruhestand genießen sollte.
«Das Schlimmste ist», so meinte er unlängst, «dass sie jetzt auch noch die Schulen militarisieren wollen und «kriegstüchtig» machen. Die sollen doch die Kinder in Frieden lassen. Die verdrehen doch die ganze Geschichte. Die wissen doch gar nicht, was sie denen antun.» (Beispiele dazu im Beitrag). Seine Worte haben mich bis in die Nachtstunden beschäftigt und ich kam auf die Idee, Harrys Plaudereien aus fast einem Jahrhundert Deutschland – natürlich mit seinem Einverständnis – aufzunehmen. Er fand die Idee gut. «Dann tut man wenigstens was, gegen das Vergessen. Viel kann man ja sowieso nicht tun. Die Menschen wollen keinen Krieg und besonders die Deutschen wollen keinen und schon gar keinen gegen Russland. Die haben die Schnauze voll vom Krieg. Aber das interessiert die da oben ja gar nicht.»
«Erzähl mal, Harry. Wie war das damals? Wie war es damals im Krieg?»
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